Tanzlegenden: Sebastian Prantl im Gespräch mit Mona May
Ein persönliches Interview zu Sebastian Prantls künstlerischem Schaffen von Mona May.
Mona May: Kannst du uns jetzt etwas über deine Familie und das Milieu, in dem du aufgewachsen, bist erzählen?
Sebastian Prantl: Ja, sehr gerne, also ich habe eine Schwester, Katharina Prantl, sie ist Malerin und wurde zwei Jahre vor mir geboren. Mein Vater ist der Bildhauer Karl Prantl, der leider 2010 verstorben ist, meine Mutter ist die Malerin Uta Peyrer-Heimstätt. Meine beiden Eltern – meine Mutter ist es noch immer – waren voll und ganz in und für die Kunst engagiert. Mein Vater, der sich ja ganz und gar der Bildenden Kunst verschrieben hatte, war mit einem breiten Sendungsbewusstsein ausgestattet, während meine Mutter und Schwester eher ruhiger im Hintergrund an ihrer Malerei arbeiteten.
Somit war das Familienleben de facto der Kunst unterworfen, was viele reizvolle und komplexe Lebensverhältnisse mit sich brachte und nicht nur Vorteile hatte. Immer und überall standen Museen, Galerien, diskursive Meetings oder Steinbrüche im Fokus. Somit besuchte ich schon als Kind und Teenager sehr viele spezifische Orte und erlebte auf unseren ereignisreichen Reisen durch Europa und in die USA so manch Ungewöhnliches.
In unserem Haus waren immer Gäste, denn da wir in der Nähe des Franz Josef-Bahnhofs in Wien Alsergrund wohnten, waren wir auch Anlaufstelle von Künstler_innen aus dem damaligen Ostblock. Es war immer viel los im großen Dachatelier des Sigmund Freud-Hofes, einem 30iger Jahre Gemeindebau, der zur Stadtbahn und zum Donaukanal hin gelegen war.
Mit Platanen im Hof, einem Spielplatz, Klopfstangen für Teppiche und Koloniakübel im roten Wien der 60iger Jahre war das eine zwiespältige Idylle. Der politische Diskurs war allgegenwärtig. Wir Kinder mussten die Launen und Tücken der „Alten“ ertragen. Es gab die Jungschar, es gab die Kinderfreunde und wir waren überall dabei, aber wir waren auch immer Außenseiter: die „Künstlerkinder“ eben – mal positiv, mal negativ besetzt und keiner Partei zugehörig. Das war nicht immer einfach.
Es war nicht viel Geld im Haus und so wurde gerne und oft improvisiert. Meine Mutter kam ursprünglich aus Salzburg, aus einer bürgerlichen Juristenfamilie, die dem „Kleinadel“ angehörte. Also wurden wir immer wieder zur Erholung in die große Mühle am Wallersee geschickt und als zwei von sechzehn Enkelkindern besonders verwöhnt. Mein Großvater war ein wohlsituierter Notar am „Alten Markt“ in Salzburg, von dort aus guckte ich immer auf den Platz und stempelte liebend gerne ausgemusterte Dokumente ab. Er war auch Obmann der „Freunde der Salzburger Festspiele“, wodurch ich schon als Kind, auf seinem Schoß sitzend, diverse Konzerte und Opern mitbekam.
Mein Vater hingegen stammte von katholischen „Kleinhäuslern“ aus Pöttsching im Burgenland ab und wurde aufgrund der grässlichen Kriegserlebnisse zum radikalen und begeisterten Künstler. Es absolvierte in Wien am Schillerplatz unter Albert Paris Gütersloh und Herbert Boeckl ein Studium für Malerei, um schließlich Bildhauer zu werden. Ausgehend vom Steinbruch in St. Margarethen/Burgenland war er ab 1959 der Initiator und Organisator der „Internationalen Bildhauer Symposion Bewegung“.
So erlebte ich immer zwei Welten in meiner Kindheit: einerseits die im Burgenland, mit meiner friedvollen, bäuerlichen Oma, und andererseits die meiner „bürgerlichen“ Großeltern in Salzburg.
Wien war weniger geborgen und ambivalenter, denn meine engagierten Eltern waren im damaligen „grauen“ Wien, als provokante Freigeister, eingebettet in das überschaubare KünstlerInnenmilieu der 60iger und 70iger Jahre.
„Die Reihe“ Konzerte, von dem Komponisten Friedrich Cerha gegründet, der ein guter Freund der Familie war, die Wiener Gruppe mit Achleitner, Rühm, Jandl und Mayröcker, waren auch enge Freunde der Familie, die Aktionisten, das 20iger Haus, die Galerie im Griechenbeisl – all diese Orte und Menschen, wirkten intensiv auf mich ein. Eventuell war ich bei Zeiten auch davon überfordert und hätte mir mehr familiäre Ruhe gewünscht.
MM: Wie verlief dein Ausbildungsweg, welche Grundschule hast du besucht und wo hast du Tanz studiert?
SP: Durch die progressiv-ideologische Überzeugung meiner Eltern besuchten wir die neugegründete Rudolf Steiner Schule in Wien Mauer. Dort hatte ich eine sehr streng anthroposophisch orientierte, aber wirklich kompetente Grundschullehrerin, Nach fünfundvierzig Jahren habe ich wieder Kontakt zu ihr, sie ist jetzt dreiundneunzig Jahre und lebt in einem Altersheim bei Zürich. Ich war einer ihrer Lieblinge und wurde von ihr sehr gefördert.
Ach ja, ich lernte auch Geige und brachte es bis ins Jugendorchester des Konservatoriums, was mich dann aber als Teenager eher stresste. Mit vierzehn fuhr die ganze Schulklasse für einen Klassenaustausch drei Monate lang nach Edinburgh in Schottland, das gefiel mir sehr.
Aufgrund gravierender künstlerischer Rückschläge, die mein Vater 1977 erlitt – ein Projekt zur Gestaltung des Stephansplatzes in Wien, welches im Rahmen des „Symposions Europäischer Bildhauer“ realisiert werden sollte – scheiterte aus kulturpolitisch Gründen. Daher wanderten wir 1977 nach New York aus, obwohl meine Eltern eigentlich weiter nach New Mexico wollten. In einem Loft in Soho schlugen wir unsere Zelte auf und so kam es, dass ich an der Upper East Side in die dortige Waldorfschule ging. Als exotischer Teenager wurde ich sehr herzlich aufgenommen und umworben. Bald verliebte ich mich. So frisch verliebt fühlte ich mich sehr wohl und erlebte mit dem anwachsenden Künstlerfreundeskreis meiner Eltern bereits die ersten Avantgarde Happenings und Tanzperformances im Downtown Manhattans. Aber auch die authentischen Musicals am Broadway hatten es mir angetan und faszinierten mich sehr.
Ein Malerfreund namens Ray Christ brachte mich damals zum „Harlem Dance Theatre“, wo ich schließlich als einziger Weißer unter schwarzen Teenies meine ersten Ballett- und Jazzstunden absolvierte.
Eigentlich wollte ich Philosophie und Geographie studieren, entschied mich dann aber doch – eher intuitiv – für eine Bühnenausbildung. Der Tanz faszinierte und begeisterte mich einfach am meisten, obwohl ich auch Gesangs- und Schauspielstunden nahm. Zuerst war mir allerdings nicht ganz klar, wie anstrengend dieses „Projekt“ rein körperlich sein würde, aber ich biss mich durch. Immerhin war ich schon als Kind theatralisch und tänzerisch „auffällig“, wurde aber durch Eurythmie in der Waldorfschule „gezähmt“ und verlor das Interesse. Jetzt in New York City war ich aufgewacht! Und ich war wie besessen davon, verschiedenste Erfahrungen zu machen!
Das Elternhaus meiner Freundin Deborah Carmichael – sie studierte Philosophie in Princeton und später auch Schauspiel und Gesang – war sehr kunstaffin und somit lernte ich wirklich alle Facetten der damaligen New Yorker Society kennen. Dazu gehörten auch Besuche im weltberühmten Nachtclub Studio 54 (der Club wird seit 1998 als Theater genutzt) und tolle Partys in sehr abgehobenen Kreisen. Jung, naiv und sehr motiviert gelang es mir, in der Juilliard School for the Performing Arts, Dance Division aufgenommen zu werden. An der Juilliard erhielt ich eine solide Ausbildung und die Grundlage für die anstrengende Realität des Bühnenlebens.
Ich hatte ja wirklich viel Glück und war höchst privilegiert am Ende der 70iger Jahre in NYC zwei ineinander-verwobene Phasen der Tanzgeschichte am eigenen Leib miterleben zu können. Einerseits erlebte ich die großen Persönlichkeiten des Modern Dance und des Balletts, wie Martha Graham, Hanja Holm, Anna Sokolow, Genia Melikova, Alfredo Corvino, Alwin Nikolais, Erik Hawkins in direktem Kontakt. Ich profitierte von ihrem Humanismus in großem Maße, was ich jetzt immer mehr zu schätzen weiß. Aber andererseits, fast überlappend, erfuhr ich die Kraft der postmodernen rebellischen ProtagonistInnen wie Simone Forti, Elaine Summers, Trisha Brown, Steve Paxton, Yvonne Rainer und schließlich Pina Bausch, „my heroine“. Sie alle prägten meine choreographische Entwicklung sicherlich umfassend mit. Also eine üppige Vielfalt in jeder Hinsicht.“
MM: Das klingt alles sehr aufregend, wie ging es dann nach deiner Ausbildung an der Juilliard weiter?
SP: New York gab sicherlich den Ausschlag dafür, dass ich für den Tanz zu brennen begann, die Stadt beflügelte mich sehr. Wien dagegen hatte für mich immer etwas Morbides und Provinzielles. Ich erlebte in New York großen Zuspruch und fand immer LehrerInnen, die mich anspornten. Als ich dann mit der Schauspielausbildung bei HB Studio (Anmkg: der Name geht auf den Schauspieler und Regisseur Herbert Berghof zurück) begann und bei der großen Audition für Pina Bausch bis in die letzte Runde kam, gab mir das enormes Selbstvertrauen, denn das war nicht selbstverständlich. In Wien zurück konnte ich mit den New Yorker Kolleginnen vom „Whitney Program“ von Kristin Lovejoy bald größere Produktionen entwickeln.
Eines Tages sprach mich ein gewisser Herr Dr. Koll aus dem Ministerium für Unterricht und Kunst nach einer Aufführung in der Modern Art Galerie an und lud mich in sein Büro. Das zog schließlich die erste Subventionen von damals 20.000 Schilling nach sich. Kurz darauf besetzten wir im Wiener WUK – dem Werkstätten und Kulturhaus – den ersten offenen Proberaum für Tanz. Mit dem Stück GAIA realisierten wir auch die gleich erste öffentliche Tanzproduktion an diesem Ort.
Wie du ja weißt, war die österreichische Tanzszene damals wirklich sehr überschaubar. Das war ja auch die Zeit, wo wir uns zum ersten Mal begegneten und gemeinsam mit der Schweizer Tanzkünstlerin Cara Musa eine Tournee durch Österreich lancierten.
MM: Ja, wir wirbelten ganz schön herum. Zum besseren Verständnis möchte ich dich gerne bitten, uns deinen Zugang zum Tanz näher zu erläutern.
SP: Es geht mir zuerst einmal darum die Qualitäten von Zeit und Raum wahrnehmbar zu machen – für mich selbst im permanenten Forschen und schließlich im Dialog zum Publikum. Eine nonverbale Sprache ist ja hierfür ein besonderes Vehikel, das eine intensive Kommunikation mit dem oder der Anderen ermöglicht. Wenn es gut geht, dann öffnet sich ein transformierter Raum. Das geschieht gemeinsam mit dem Publikum und mit den vielen ProtagonistInnen, die mitspielen. Da kann ETWAS stattfinden! Wir können uns beflügeln und uns gegenseitig begeistern! Aber wir sind gleichzeitig – und das meine ich im besten Sinn – abhängig von einander.
Improvisierter Tanz, der mich besonders als Quelle für meine Arbeiten interessiert, ist Grundlagenforschung per se. Es ist ein sich stetig wandelnder Inhalt – ein Ringen nach Authentizität, nach Wahrhaftigkeit.
Musik, die die Schwester des Tanzes ist, war und ist natürlich oft Auslöserin und Begleiterin dieses transformativen Prozesses. Sie kann aber auch divergierende Provokateurin sein oder einfach parallel ablaufen. Da ich mit einer klassischen Konzertpianistin verheiratet bin und mit ihr künstlerisch zusammenarbeite, ist Musik permanent in meiner Nähe. Wir teilen uns ein Studio und arbeiten oft parallel an eigenen Dingen, so beflügeln wir uns an dieser Parallelität. Cecilias Input ist in meiner choreographischen Arbeit ständig präsent – sometimes quite challenging!
Immer wieder waren aber auch architektonische oder literarische Themen ausschlaggebend für meine Projekte beziehungsweise ergaben sie sich des Öfteren auch aus gesellschaftspolitischen Kontexten.
MM: Erzähle mir doch bitte ein wenig über den Künstler Sebastian Prantl, wer ist er, warum tut er, was er tut? Wie arbeitest du? Wie entstehen deine Tanzstücke? Was sind deine Motive?
SP: Das ist wahrlich eine sehr schwierige Frage! Aber ich versuche es: Tanz ist wahrscheinlich die fragilste aller Kunstformen, aus dem momentanen Gestus wachsend, um sich schon in der nächsten Regung wieder zu verändern und sich neu zu konstituieren und einzunisten – Bewegung ist immer im Transit oder „auf der Flucht“, wenn man es so sagen will.
Ich empfinde es zunehmend angenehm – und ökologisch allemal brauchbar – kein angreifbares, museales Material zu bearbeiten beziehungsweise zu hinterlassen, wie zum Beispiel bildende KünstlerInnen das tun. Im Vertrauen auf das Jetzt, dabei auf mein angesammeltes, imaginatives Rüstzeug zurückgreifend, gehe ich immer gelassener auf die „Bretter, die mir das Leben bedeuten“.
Pina Bausch sagte immer: „Mich interessiert nicht, wie ihr euch bewegt, sondern, was euch bewegt.“ Das kann ich voll und ganz unterschreiben, denn es ändert sich nun mal ständig alles. Und das ist gut so.
Das heißt, ich arbeite mit spontaner Inspiration, die sich wie zufällig, fast beiläufig einstellt oder auch nicht. In der Hoffnung, dass ich einen Faden in die Hand bekomme, der Sinn macht, bin ich fast immer auf der „Pirsch“. Ich lese vielerlei – auch Dinge, die nichts mit Kunst zu tun haben. Ich besuche auch Konzerte verschiedenster Stilrichtungen und – zwar zunehmend weniger – ich gehe auch ins Kino. Anfangs war mir das Konzept und die Vorbereitung immer sehr wichtig, das änderte sich schlagartig, als wir eine sehr aufreibende – jedoch äußerst interessante – Indien-Tournee, mit den Stücken BOOGIE WOOGIE in Hommage an Piet Mondrian und LU in Hommage à Erik Satie, hinter uns gebracht hatten.
Erschöpft lagen wir nach unserer Rückkehr sehr krank im Bett und erlebten via Fernsehen den ersten Irak Krieg mit. Während der Tournee hatten wir das aufwendige Bühnenbild verloren. Es wurde uns gestohlen und daher mussten wir in Indien ständig improvisieren und die absurdesten Situationen überbrücken und meistern.
Wir wollten, „inspiriert“ von diesem Erlebnis, unabhängiger und spontaner arbeiten und weniger auf herkömmliche künstlerische Aufführungsstrukturen und Repertoires zurückgreifen. So wurde ab 1992 unsere alles bestimmende Grundlagenphilosophie „Real Time Composition“. Als unser Projekt „CAGE – für die Vögel“ in dieser Art und Weise entstand, war schnell klar, dass dieser Weg für alle unsere weiteren choreographischen Projekte Gültigkeit haben würde.
MM: Wie kann ich mir das konkret vorstellen, begibst du dich in den Probenraum und arbeitest du einfach spontan darauf los – nutzt sozusagen die Leere als Impuls oder folgst du doch in irgendeiner Weise einem „Plan“ beziehungsweise einer „inneren Logik“?
Beim Choreographieren verliere ich mich ganz im Beobachten und Absorbieren der Phänomene und Geschehnisse. Grundsätzlich ist hier das „Material“, das mir von den ProtagonistInnen angeboten wird, der Einstieg und die Evolution zugleich. Ich gestalte den Proberaum oft penibel genau aus und setze Hindernisse in räumlicher und zeitlicher Hinsicht, um dann die „Ansätze und Lösungen“ der ProtagonistInnen genau zu studieren.
Des Weiteren arbeite ich ständig an der Abstraktion von Bewegungsabläufen, in denen Nähe und Distanz, Motion und Emotion vielschichtig imaginiert werden können, um daraus emotional-ökonomische Narrative und eine stimmige Energetik ableiten und mannigfaltig einsetzen zu können.
Diese „Katas“1 sind oft Übungskanons vor improvisatorischen Proben, anstatt eines „technischen Warm-Up“.
Zudem habe ich mich eingehend mit Friedrich Kieslers Theatervisionen beschäftigt, der in meinen Augen viel zu unterbewertet ist. Als bildender Künstler, Bühnenbildner, Architekt und Visionär entwickelte er das Konzept von einer „Raumbühne“.
Diese Raumbühne ist eine kreisförmige, scheinbar schwebende Bühnenkonstruktion mit einer spiralförmigen Rampe und wurde 1924 im Konzerthaus Wien eingebaut. Kiesler hat bei seiner Konzeption die vorhandene Guckkastenbühnenachse provokant außer Kraft gesetzt und so eine, von allen Seiten offene, auf mehreren Ebenen bespielbare Geometrie angeboten.
In seinen späteren Konzepten, wie zum Beispiel das „Endless House“, beschäftigte er sich dann noch mit viel universelleren Themen über tradierte Materialien in Bezug auf den Umgang mit dem Innen- und Außenraum. Solch räumliche Vorgaben suggerieren offene und multifunktionale Räume, die Vieles zulassen und doch philosophische Ansprüche stellen. Durch diese und ähnliche philosophisch-diskursive Parameter ergeben sich herausforderndere Rahmenbedingungen, die es auszuloten gilt, um schließlich strukturiert zu werden.Es geht mir also um die Grundparameter von Transformation im Theaterschaffen per se. Das ist mir enorm wichtig, darum halte ich auch ein Konzept, das willkürlich – mitten in der fragilen Natur – riesige Bühnen errichtet, um ein Massenpublikum bedienen zu können, für sehr fragwürdig. Und dass am Schluss einem enthusiastischen Publikum jeweils noch ein gigantisches Feuerwerk angeboten wird, egal ob es thematisch legitim ist und egal wie heiß der Pannonische Sommer sein mag – das löst bei mir nur ein Kopfschütteln aus, Das ist für mich mit Verlaub, mit „ecology & economy of theatre making“ unvereinbar. So etwas hat weder mit Theater noch mit einer historischen Verortung zu tun. Naturschutz scheint dabei ein hohles Schlagwort zu sein und verkommt zum bloßen Dekor.
MM: Ich bin froh, dass du das erwähnst und darüber könnten wir uns lange austauschen, es gibt ja so einiges, das gesellschaftskritisch betrachtet im Argen liegt. Für mich ist es wichtig, dass neben den menschlichen auch alle diese gesellschaftsrelevanten Themen in meine Arbeiten einfließen, wie ist das bei dir?
SP: Ich unterrichtete viel an Kunstuniversitäten, auch in Asien und bemerkte zunehmend ein Auseinanderklaffen von Soft- und Hardware, um es mal so technisch auszudrücken. Dort wo die „Hardware“ dominiert und sich zunehmend alles danach ausrichtet, entsteht ein großes Vakuum. Perfekte Formationen perfekt geschulter Körper und eine überbordende Technik, aber es fehlt der Inhalt, die Verwurzelung, die (kunst-)geschichtliche Integration. Durch dieses „Copy and Paste“ Vorgehen werden die Kunst und ihre ProtagonistInnen funktionalisiert.
Die viel wichtigere Frage aus meiner Sicht ist jedoch: „Was tut das alles mit uns, mit dir und mit mir? Was bedeutet das für unser Miteinander?“ Es geht nicht um ein Produkt. Es geht um Prozesse und darum: „Wer bist du, wer bin ich und wer sind wir gemeinsam?“
Da komme ich wieder auf Friedrich Kiesler zurück: „US, YOU, ME“, lautet der Titel einer seiner exemplarischen, späteren Arbeiten.
So swift … to roar from rift to rift … a prey … of nature’s gift … to man … for self-destruction … resist, sweet madman … the drive to wound and kill … have the guts … to live your depth … the security is … you me us.
Friedrich Kiesler
Ich mag aus diesem Grund auch längerfristige Arbeitszyklen von ein bis zwei Jahren, die allen Beteiligten zwar immer wieder viel abverlangen, aber diese auch prägen und zueinander bringen.
So ergaben sich über die Jahre vielschichtige Ensemble-Permutationen, aus welchen sich anhaltende, tiefe Freundschaften und künstlerische Beziehungen entwickelten und fortsetzen. Zum Beispiel mit Othello Johns, einem aus Louisiana (USA) stammenden Tanzkollegen, der Architektur studierte, sich dann aber für den Tanz entschied und als Solist in der Erik Hawkins Company in NYC tanzte. Heute lebt er in Köln und ist immer wieder ein Partner bei unseren SOLO und DUO Formaten, die wir gemeinsam mit MusikerInnen entwickeln.
SP: Kannst du die Themen, die in deinem Kunstschaffen relevant sind noch ein wenig genauer benennen, auch wiederkehrende oder durchgängige Motive interessieren mich sehr, wenn es diese gibt?
SP: Die Titel unserer Projekte sagen eigentlich alles aus. Es sind einerseits philosophische Variablen mit denen ich und wir arbeiten, da sie viele Öffnungen und Assoziationen zulassen. Andererseits gibt es auch biografische Stücke, die quasi wie Widmungen zu verstehen sind. In diesen Stücken setze ich mich mit mir wichtigen KünstlerInnen und ihrem spezifischen Oeuvre auseinander. Dazu gehören zum Beispiel Erik Satie, Friedrich Cerha, Friedericke Mayröcker und einige mehr.
In unsere Stücke mischt sich immer auch Narratives, das ist durchaus auch als gesellschaftspolitisches Statement zu verstehen. Wobei auch Humor und Ironie ein wichtiges Merkmal sind, denn die Ironie und die Abstraktion sind ja im Körperlichen allgegenwärtig. Gegebenenfalls eine ironische Leichtigkeit zu entdecken und diese zu definieren, das ist sicherlich in der jetzigen Zeit eine besondere Herausforderung.
Ich wurde ja vom American-Post-Modern-Dance geprägt, der teilweise überladen ist oder aber auch einfach zu „conceptual and brainy“. Durch Pina Bausch kam ich schließlich zu einer eigenen Bewegungssprache, die sich durch Selbstironie immer wieder neu erfindet. Ich war nie ein formalistischer Tänzer, sondern mir war die Emotion, also das, was die Bewegung nach außen bringt, immer sehr wichtig.
Im „Embodiment of (e)motion“ 2 wird die Verwandlung per se untersucht. Du beschaust und beobachtest dich nicht nur, während deines Tuns, sondern du „belächelst“ dich auch, nimmst also das, was du tust, nicht so ernst. Somit ist eine gewisse Distanz und Leichtigkeit im Spiel.
Als Choreograf arbeite ich ja prinzipiell am Vis-à-vis oder vom Vis-à-vis aus, das habe ich von Pina Bausch gelernt. Ich gehe vom Bewegungsmaterial aus und suche nach Erweiterungen. Wie und was nehme ich bei meinem Gegenüber wahr, aus welcher Motivation setze ich dann choreografische Entscheidungen? Und das „loopt“ sich immer weiter – hoffentlich mit Leichtigkeit. Sonst ist das Ganze, physisch und emotional, nicht zu machen.
MM: Danke Sebastian, es ist ja ein wahrer Genuss, dir beim Philosophieren zuzuhören, ich habe aber auch eine ganz profane Frage an dich: Kannst du von deiner Arbeit als Tanzschaffender leben und wie gestaltet sich deine Einkommenssituation, musst du unterrichten, was ja viele Tänzer_innen machen, um überleben zu können?
SP: Ich konnte über Jahre mit Hilfe von Subventionen, die ich durch die Stadt Wien und vom Bund erhielt, meine künstlerische Arbeit ausbauen. Aber immer unter prekären Umständen und hart am Limit, immer mit unsicherer Existenz und mit extremer Selbstausbeutung. Abgesehen von einer Vier-Jahresförderung Ende der 90iger Jahre, wofür ich bis heute sehr dankbar bin.
Wir waren immer für ein größeres Ganzes und für die Bündelung von Kräften und in der sogenannten „Freien Szene“ sehr engagiert. Viele unserer Konzepte liegen in den Archiven der Stadt Wien und des Bundes und wurden ignoriert Natürlich war auch das Unterrichten und der Austausch von Erfahrungen Teil dieser Arbeit, aber weniger als extra Einkommen, sondern vielmehr als Teil des größeren Diskurses. Mit der lang ersehnten Einrichtung des Tanzquartier Wien im Jahr 2002, das wir ja über eine ganze Dekade hinweg kulturpolitisch erstritten hatten, ging es dann für mich und das TANZ ATELIER WIEN bergab, obwohl wir uns natürlich Synergien und Aufschwung erhofft hatten.
Wir wollten immer ein offeneres Haus für die freie Tanzszene, in welchem KünstlerInnen an der Speerspitze alternierend im Wechselspiel der Kräfte, relevante Inhalte, mit einem Verständnis von „art based research“ ausprobieren hätten können und quasi als StadtchoreografInnen weit über die Halle G hinaus tätig werden hätten können. Das war vor 20 Jahren! Aber nein, IntendantInnen, Hierarchien und Konkurrenzdenken mussten her, um ein klares Territorium abzustecken und so wurde aus dem Gedanken der Inklusion ein Ausschluss.
Wir und unser Anliegen wurde nicht verstanden, denn es geht doch darum, dass KünstlerInnen per Definition frei agieren und sich begegnen, reiben und beflügeln können. Konkurrenzieren als Triebfeder für den Markt zu sehen, der gekoppelt an den Tourismus ist, ist für jegliche Tanz- und Theaterentwicklung fatal.
Man wollte uns nicht mehr und wir wurden ausgemustert. Ich war nie in einem eigenen Verein angestellt, wie viele meiner KollegInnen, dafür reichten die Subventionen einfach nicht aus, somit passe ich auch jetzt, während Covid 19, in keine „Hilfskategorie“.
Durch die Initiative des ICLA = International ChoreoLab Austria an der Donau Uni Krems konnten wir dann ab 2009 eine neue Achse aufbauen, die besonders auf internationalen universitären Netzwerken nach Asien aufbauen. Ab dieser Zeit konnte ich also viel als „Gastprofessor“ unterrichten – besonders in Taiwan, dort sind die transmedialen Departments sehr gut ausgerichtet.
Das Gute und auch Erfüllende ist, dass ich an allen Schnittflächen, wo gesellschaftliche und soziale Auseinandersetzungen und Reibungen stattfinden, arbeiten kann. So hatten wir zum Beispiel 2009 einen Kooperationsvertrag mit p(ART) und arbeiteten mit dem Bundesinstitut für Gehörlosenbildung mit Teenagern, um eine Produktion für die Bezirks-Festwochen zu realisieren. Des Weiteren arbeitete ich 2015 im Rahmen von Lilly‘s Ballroom regelmäßig mit Menschen, die sehbehindert oder blind sind. Im Rahmen von Colourscape London gab es mehrere Schulprojekte in East-London mit sogenannten „auffälligen“ Kids, um einige Beispiele zu nennen, wo wir überall ansetzen und einen Beitrag leisten können.
MM: Abgesehen von deiner Unterrichtstätigkeit, wo erarbeitest du deine Stücke und wo werden sie aufgeführt?
SP: Seit 1988 haben wir ja, wie du weißt, in der Neustiftgasse im 7. Bezirk die Räumlichkeiten des TAW – Tanz Atelier Wien, das wir aber in „Trans Art Work“ umbenannt haben. Diese Räume sind wahrscheinlich der Hauptgrund, warum wir noch immer in Wien sind, der Studioraum ist ein architektonisch-interessanter, heller Raum mitten in der Stadt, der wunderbar für alles mögliche nutzbar ist. Hier haben wir immer wieder kleinere Stücke inszeniert, die wir dann nach Außen auf große Opernbühnen, wie etwa in Kalkutta, Delhi, Peking, Brasilia, Krakau usw. gebracht haben. In Wien spielten wir im Odeon, im Semper Depot, in der Sezession, im MAK, im Arsenal, im Jesuitentheater oder der Universitätskirche. Meine Stücke und Performances fanden und finden aber auch genauso in Galerien, Museen und an öffentlichen Plätzen statt. Da bin ich sehr flexibel, denn jeder Raum erfordert eine andere Herangehensweise und diese Herausforderungen reizen mich.“
MM: Du hast ja vieles erlebt und vieles bewegt, wie ist deine augenblickliche Lebenssituation und dein Lebensgefühl, was sind deine Hoffnungen, Ambitionen und Ziele?
SP: Meine derzeitige Lage macht mich schon sehr nachdenklich. In der jetzigen Situation ist es noch nicht klar wie es mit dem Tanz, so wie ich ihn praktiziere, weiter gehen kann. Ich setze mich mit dem Begriff „Dance Ecology“ stärker auseinander und gewinne neue Erkenntnisse. Ich pflege auch eine intensivere Betätigung in der Natur, ich liebe Aufenthalte auf dem Land und dort Bäume aufzuziehen und im Garten zu arbeiten. Ganz konkret überlege ich, mich eventuell an Bio-Farming zu beteiligen, um so einen neuen Gestus von Körperduktus und dessen ästhetischer Rückkoppelung zu erforschen, wie das etwa auch im Butoh-Tanz zelebriert wird. Das hätte insofern in der derzeitigen Situation neue Perspektiven, da der zeitgenössische Bühnentanz, der ja vornehmlich mit einer Stadtkultur assoziiert wird, natürlich jetzt auch stark von der Corona-Krise betroffen ist. Das würde uns natürlich andere Zugänge und relevante Aspekte abverlangen. Also, wenn ich mir vorstelle, dass Innenräume und Bühnen nur mit äußerst schwierigen und komplizierten Vorkehrungen aufgemacht werden können, dann stellt es mir gelinde gesagt, die Haare auf.
Aber um positiv zu bleiben: „Was gäbe es denn für Möglichkeiten, jetzt notgedrungenermaßen neues, sinnvolles Terrain zu besetzen?“ Ich finde es interessant, dass Disziplinen wie Yoga, die vermehrt in der Natur betrieben werden, geradezu boomen. Also es scheint sich da ja im Umgang mit (Lebens-)Räumen etwas zu verändern, insofern ist dieses „back to nature“ nicht nur eine Modeerscheinung, sondern ein elementares Bedürfnis.
Diese neuen Schnittstellen müssten in einem breiteren Diskurs herausgearbeitet werden, zu Gunsten von Rahmenbedingungen für ein Theater, das jetzt Sinn macht und das nicht nur provokant und museal von der Bühne aus agiert. Will man allerdings den Theaterbegriff größer spannen, dann hat er etwas mit den zukünftigen partizipativen Denk- und Aktionsräumen zu tun. Und da werden die Fragen dann schon komplizierter und komplexer: „Was bedeuten privater Innenraum, Außenraum, öffentlicher politischer Stadtraum, Naturraum, Open Air, Family Park, Donauinselfest und so weiter? Das sind diese Themen, die mir jetzt in der ganzen Debatte wirklich abgehen. Daraus ergäben sich Fragen wie: Was bedeutet Theater(machen) schlechthin? Worum geht es da? Welche Phänomene stellen sich ein, greifen sich Platz, verändern Ort und Zeit? Geht es dabei um Konfrontation, Transformation, Beschauung von Beschautem oder um Dialoge?
Natürlich geht es im Falle des Tanzes um Berührung, im wahrsten Sinn des Wortes, um haptische Sinnlichkeit. Da wird es schwierig, und ich meine jetzt nicht, dass ein Virus zu ignorieren sei, aber man muss alles sehr konkret festmachen und abwägen, um zu sehen, was möglich ist und was nicht. Dabei ist es auch wichtig etwaige Hysterien identifizieren zu dürfen und auch der Angst, die geschürt wird, entgegenzutreten. Ich bin viel mit meinen KollegInnen in New York und London in Kontakt, dort geht es natürlich viel verheerender zu, als bei uns. Das darf nicht unterschätzt werden, aber gleichzeitig müssen wir auch die Türen offenlassen und sagen: „Wir können uns jetzt nicht alle abschotten und für immer isolieren.“ Ich bin mit Contact-Improvisation groß geworden, wo Nähe in jeder Hinsicht wichtig und ausschlaggebend ist, vom physikalischen bis zum emotionalen Aspekt. Aber wer weiß, vielleicht entsteht jetzt wieder etwas ganz Neues – wie schon gesagt, notgedrungenermaßen.
MM: Würdest du uns auch einen kleinen Einblick in das private Leben des Sebastian Prantl gewähren? Mich würde auch interessieren, was dir die Begriffe Familie und Heimat bedeuten? Mit wem du in einer Beziehung lebst und ob du Kinder hast? Und ob diese für dich, auch in Bezug auf dein künstlerisches Schaffen wichtig sind?
SP: Heimat, hm? Also, ich bin überzeugter Europäer mit starker Affinität zu Asien. Ich bin aber äußerst kritisch, wenn es um die europäische Kolonialhegemonie und Eurozentrismus im Allgemeinen geht. Zu diesem Thema kann ich Pankai Mishras Buch „The End of the Empire“ sehr empfehlen.
Und zur Frage der Familie, natürlich sind mir meine Frau und meine Tochter sehr wichtig, ein größerer Familienzusammenhang bedeutet mir allerdings immer weniger.
Ich bin mit meiner Frau Cecilia Li, die aus Taiwan stammt und Konzertpianistin ist, schon seit 1990 verheiratet und habe eine fünfundzwanzig jährige Tochter, Mei-An.
Sie studierte Sinologie in Wien und Peking und Internationale Rechtswissenschaften an der SOAS University of London, sie ist jetzt mit ihrer Masterthesis in „International Law“ an der Amsterdam University fast fertig. Das Thema ihrer Arbeit ist die Hongkongkrise und ihre globalen, juristischen Konsequenzen. Ich bin sehr stolz auf sie.
Cecilia und ich leben eine intensive künstlerische Symbiose. Sie ist zwei Jahre älter als ich und kam bereits mit vierzehn Jahren nach Salzburg ans Mozarteum und studierte dort das Konzertfach Klavier. Wir sind eng miteinander verwoben und treiben uns immer weiter an, was natürlich auch manchmal Konfrontationen nach sich zieht. Sie ist sehr im Buddhismus verankert, wovon ich sehr profitiere, generell konnte ich, durch ihre weit verstreute Familie, einen sehr differenzierten Blick auf viele soziokulturelle Themen entwickeln. Dafür bin ich sehr, sehr dankbar.
MM: Erzählst du uns abschließend noch etwas über deine allernächsten Pläne und deine nahen Ziele?
SP: Gerne möchte ich wieder choreographisch arbeiten, ohne dadurch jedoch in die Mühlen der österreichische Kulturpolitik, die ja immer mit einem Bittstellertum verbunden ist, zurückzufallen. Das Stück „US – YOU AND ME“ eine Hommage an Friedrich Kiesler, steht noch aus. Ob das angesichts der Krise und den damit zu erwartenden Folgen in absehbarer Zeit möglich sein wird, das weiß ich noch nicht.
Ich arbeite auch als Practitioner mit BMA, also mit Body Mind Anchoring mit einzelnen KlientInnen, das ist eine echte Bereicherung und das würde ich sehr gerne ausbauen. Und schließlich möchte ich einfach gesund und ohne Stress noch bewusster und zuversichtlicher leben lernen – ich bin sozusagen auf der Suche nach dem Wunderbaren.
MM: Danke, für dieses interessante und phänomenal spannende Interview, lieber Sebastian. Und ich wünsche dir, dass du es findest, das Wunderbare, das du, wie ich sehe, bereits als großen Schatz, in dir trägst.
SP: Ich danke Dir sehr herzlich, liebe Mona, für dieses Format. Es hat mich gezwungen zurückzuschauen – was ich nicht sehr gut kann. Und es gab mir die Möglichkeit mein bisheriges Leben vielleicht ganz neu zu bewerten und mich neu zu entdecken.
Info:
http://www.transartworks,net
Fotos: (c) TAW S. P.
1Unter einer Kata wird ein festgelegter Ablauf von Bewegungsformen verstanden
2Im Embodiment wird davon ausgegangen, dass jedwedes Bewusstsein einen Körper benötigt, damit eine physikalische Interaktion überhaupt erst möglich ist.